Mittwoch, 14. November 2012

Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen

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Deutscher Bundestag Drucksache 15/5689
15. Wahlperiode 15. 06. 2005
Antrag

der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP

Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den
Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und
Armeniern beitragen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag verneigt sich im Gedenken an die Opfer von Gewalt,
Mord und Vertreibung, unter denen das armenische Volk vor und während des
Ersten Weltkrieges zu leiden hatte. Er beklagt die Taten der jungtürkischen
Regierung des Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung
der Armenier in Anatolien geführt haben. Er bedauert auch die unrühmliche
Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen
über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal
versucht hat, die Gräuel zu stoppen.

Der Deutsche Bundestag ehrt mit diesem Gedenken die Bemühungen all der
Deutschen und Türken, die sich unter schwierigen Umständen und gegen den
Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in Wort und Tat für die Rettung von armenischen
Frauen, Männern und Kindern eingesetzt haben. Besonders das
Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben
des armenischen Volkes gekämpft hat, soll dem Vergessen entrissen und im
Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem
deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden.

Der Deutsche Bundestag ist sich aus langer eigener Erfahrung darüber bewusst,
wie schwer es für jedes Volk ist, zu den dunklen Seiten seiner Vergangenheit zu
stehen. Er ist aber fest davon überzeugt, dass eine ehrliche Aufarbeitung der
Geschichte notwendig ist und die wichtigste Grundlage für Versöhnung darstellt.
Dies gilt insbesondere im Rahmen einer europäischen Kultur der Erinnerung,
zu der die offene Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der jeweiligen
nationalen Geschichte gehört.

Vor diesem Hintergrund bedauert der Deutsche Bundestag, dass heute in der
Türkei eine umfassende Diskussion über die damaligen Ereignisse im Osmanischen
Reich immer noch nicht möglich ist und Wissenschaftler und Schriftsteller,
die sich mit diesem Teil der türkischen Geschichte auseinandersetzen wollen,
strafrechtlicher Verfolgung und öffentlicher Diffamierung ausgesetzt sind.

Der Deutsche Bundestag sieht allerdings auch erste positive Anzeichen, dass
sich die Türkei im Sinne der erwähnten europäischen Kultur der Erinnerung zunehmend
mit der Thematik beschäftigt. Beispiele dafür sind:
– Die Große Türkische Nationalversammlung hat erstmals türkische Bürger
armenischer Abstammung zu Gesprächen über die Verbrechen an den Armeniern
und die türkisch-armenischen Beziehungen eingeladen.
– In Wien fand ein türkisch-armenischer Frauendialog statt.
Drucksache 15/5689 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
– Erste Kontakte zwischen türkischen und armenischen Historikern führten
zum Beginn eines Dokumentenaustauschs.
– Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eröffnete mit dem armenischen
Patriarchen Mesrob das erste armenische Museum der Türkei in Istanbul
und schlug öffentlich die Einrichtung einer bilateralen türkisch-armenischen
Historiker-Kommission vor.

In diesem Zusammenhang erfüllt es den Deutschen Bundestag aber erneut mit
tiefer Sorge, dass die Armenier-Konferenz international angesehener türkischer
Wissenschaftler, die vom 25. bis 27. Mai 2005 in Istanbul stattfinden sollte,
durch den türkischen Justizminister unterbunden wurde und die von der türkischen
Regierungsmeinung abweichenden Positionen dieser türkischen Wissenschaftler
als „Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation“ diffamiert wurden.
Der Vorschlag von Ministerpräsident Erdogan, eine gemeinsame türkischarmenische
Historiker-Kommission einzurichten, kann nur dann Erfolg haben,
wenn er auf der Basis eines freien und öffentlichen wissenschaftlichen Diskurses
umgesetzt wird. Auch Deutschland, das mit zur Verdrängung der Verbrechen am armenischen
Volk beigetragen hat, ist in der Pflicht, sich der eigenen Verantwortung zu stellen.
Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben
der Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu
suchen.

Seit langem haben sich vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland für
eine Integration der Armenier aus der Türkei eingesetzt. Die hier entstandenen
armenischen Gemeinden bieten Möglichkeiten der Begegnung und des Gedenkens.
Gerade angesichts der großen Anzahl der in Deutschland lebenden
Muslime aus der Türkei ist es eine wichtige Aufgabe, sich die Geschichte zu
vergegenwärtigen und dadurch auch zur Aussöhnung beizutragen.

Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Ereignissen hat aber auch
unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart. Heute ist die Normalisierung der
Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien für die
Zukunft der ganzen Region von besonderem Interesse. Was dringend notwendig
ist, sind vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten im Sinne der
OSZE-Prinzipien. So könnte z. B. die Öffnung der Grenze durch die Türkei die
Isolierung Armeniens aufheben und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen
befördern.

Deutschland kommt aufgrund seiner historischen Rolle in den deutschtürkisch-
armenischen Beziehungen heute eine besondere Verpflichtung im
Rahmen der Nachbarschaftsinitiative der EU zu. Ziel muss sein, dabei mitzuhelfen,
eine Normalisierung und Verbesserung der Lage zwischen Armenien
und der Türkei zu ermöglichen und damit einen Beitrag zur Stabilisierung der
Kaukasus-Region zu leisten.

Einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung können die Bundesländer leisten. Aufgabe
der Bildungspolitik ist es, dazu beizutragen, dass die Aufarbeitung der
Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte
ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türken und Armeniern ein Ausgleich
durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht
wird,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5689
– dafür einzutreten, dass sich Parlament, Regierung und Gesellschaft der Türkei
mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart
vorbehaltlos auseinandersetzen,
– sich für die Bildung einer Historiker-Kommission einzusetzen, an der außer
türkischen und armenischen Wissenschaftlern auch internationale Experten
beteiligt sind,
– sich dafür einzusetzen, dass nicht nur die Akten des Osmanischen Reiches
zu dieser Frage allgemein öffentlich zugänglich gemacht werden, sondern
auch die von Deutschland der Türkei übergebenen Kopien aus dem Archiv
des Auswärtigen Amts,
– sich für die tatsächliche Durchführung der in Istanbul geplanten, aber auf
staatlichen Druck hin verschobenen Konferenz einzusetzen,
– sich für die Gewährung der Meinungsfreiheit in der Türkei, insbesondere
auch bezüglich des Schicksals der Armenier, einzusetzen,
– dabei zu helfen, dass die Türkei und Armenien ihre zwischenstaatlichen Beziehungen
normalisieren.

Berlin, den 15. Juni 2005
Franz Müntefering und Fraktion
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Begründung

Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, wurde auf Befehl der das Osmanische Reich
lenkenden jungtürkischen Bewegung die armenische politische und kulturelle
Elite Istanbuls verhaftet, ins Landesinnere verschleppt und zum großen Teil ermordet.
Dieses Datum wurde zum Gedenktag der Armenier in allerWelt für die
Vertreibungen und Massaker an den armenischen Untertanen des Osmanischen
Reiches, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts, verstärkt aber dann im Ersten
Weltkrieg stattfanden.
Die rekrutierten armenischen Soldaten der osmanischen Armee wurden zu Beginn
des Kriegseintritts des Osmanischen Reichs in Arbeitsbataillone zusammengefasst
und mehrheitlich ermordet. Frauen, Kinder und Alte wurden ab
Frühjahr 1915 auf Todesmärsche durch die syrische Wüste geschickt. Wer von
den Verschleppten noch nicht unterwegs ermordet worden oder umgekommen
war, den erreichte dieses Schicksal spätestens in den unmenschlichen Lagern in
der Wüste um Deir ez Zôr. Massaker wurden auch von eigens dafür aufgestellten
Spezialeinheiten ausgeführt. Widerstand ranghoher türkischer Beamter
gegen dieses Vorgehen wie auch Kritik aus dem osmanischen Parlament begegnete
das jungtürkische Regime mit brutaler Ablehnung. Viele Gebiete, aus
denen die christlichen Armenier vertrieben worden waren, wurden mit Kurden
und muslimischen Flüchtlingen der Balkankriege besiedelt. Ebenso waren Angehörige
anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische
und chaldäische Christen, aber auch bestimmte muslimische Minderheiten von
Deportationen und Massakern betroffen.
Den Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen
über 1 Million Armenier zum Opfer. Zahlreiche unabhängige Historiker,

Drucksache 15/5689 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin

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ISSN 0722-8333

Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und
Vernichtung der Armenier als Völkermord. Die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei, bestreitet bis heute entgegen der Faktenlage, dass diesen Vorgängen eine Planmäßigkeit
zugrunde gelegen hätte bzw. dass das Massensterben während der Umsiedlungstrecks
und die verübten Massaker von der osmanischen Regierung gewollt
waren.

Die zugegebene Härte gegen die Armenier wurde stets mit der Tatsache
gerechtfertigt, dass sowohl 1878 als auch 1914/1915 viele Armenier auf Seiten
Russlands gegen die Türkei gekämpft haben und dass die Gefahr bestanden
hätte, dass die Armenier auch im Ersten Weltkrieg dem Osmanischen Reich in
den Rücken fallen würden. Andere türkische Rechtfertigungen berufen sich auf
armenische Gewaltanwendung gegen Türken, die beim bewaffneten Widerstand
gegen die türkischen Umsiedlungsmaßnahmen vorkamen. Auch die bis in
die 1980er Jahre von Armeniern gegen Türken verübten terroristischen Anschläge
werden zur Rechtfertigung der türkischen Position herangezogen.

Insgesamt wird das Ausmaß der Massaker und Deportationen in der Türkei immer
noch verharmlost und weitgehend bestritten. Diese türkische Haltung steht
im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Wertegemeinschaft der
Europäischen Union leitet. Auch heute noch sind Historiker in der Türkei bei
der Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern
nicht frei und kommen trotz Lockerung der bisherigen Strafbarkeit nach
wie vor unter großen Druck.

Das Deutsche Reich war als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen
Reiches ebenfalls tief in diese Vorgänge involviert. Sowohl die politische als
auch die militärische Führung des Deutschen Reichs war von Anfang an über
die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert. Die Akten des Auswärtigen
Amts, die auf Berichten der deutschen Botschafter und Konsuln im
Osmanischen Reich beruhen, dokumentieren die planmäßige Durchführung der
Massaker und Vertreibungen.

Trotz dringender Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten
aus Wissenschaft, Politik und den Kirchen, darunter Politiker wie
Philipp Scheidemann, Karl Liebknecht oder Matthias Erzberger und bedeutende
Persönlichkeiten aus der evangelischen und katholischen Kirche wie z. B.
Adolf von Harnack und Lorenz Werthmann, unterließ es die deutsche Reichsleitung,
auf ihren osmanischen Verbündeten wirksamen Druck auszuüben.

Als der evangelische Theologe Dr. Johannes Lepsius am 5. Oktober 1915 im
Deutschen Reichstag die Ergebnisse seiner im Juli/August 1915 in Istanbul
durchgeführten Recherchen vortrug, wurde das gesamte Armenier-Thema von
der deutschen Reichsregierung unter Zensur gestellt. Ebenso wurde 1916 von
der deutschen Militärzensur die Dokumentation von Johanneds Lepsius „Bericht
über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“ verboten und beschlagnahmt.

Die von Lepsius direkt an die Abgeordneten des Deutschen
Reichstags gesandten Exemplare dieser Dokumentation wurden durch die
Behörden abgefangen und den Abgeordneten erst nach dem Krieg 1919 ausgehändigt.
Diese fast vergessene Verdrängungspolitik des Deutschen Reiches zeigt, dass
dieses Kapitel der Geschichte auch in Deutschland bis heute nicht befriedigend
aufgearbeitet wurde.