Mittwoch, 14. November 2012

Hagalil Ramona Ambs zu "Annes Schweigen"

Ein Theaterstück über Sprachlosigkeit und kulturelle Identität…
Von Ramona Ambs

Es geht um Sabiha. Nicht um Anne.
Auch wenn der Titel des Theaterstücks „Annes Schweigen“ dem nicht türkisch kundigen Publikum suggeriert, es ginge um eine Frau namens Anne, die die Zähne nicht auseinanderbringt. Anne ist aber ein türkisches Wort und heisst auf deutsch “Mutter”.

Es geht also um das Schweigen der Mutter. Um Sabihas Mutter. Und damit auch um Sabiha, denn die Mutter ist tot und nichts vererbt sich aufdringlicher als das Schweigen. Es nimmt einen gefangen, das Schweigen, es legt sich wie einen Panzer um einen und sorgt dafür, dass nichts mehr zu einem durchdringt. Und dass nichts mehr aus einem rauskommt. Schweigen lähmt. Schweigen isoliert. Generation für Generation. Da steht auch die deutsche Freundin Anne, die das Publikum anfangs an die Hand nimmt und zu den Schweigenden führt, ratlos davor…

Sabiha wächst als Türkin in Deutschland auf. Als Fremde zwischen den Kulturen fühlt sie sich zu türkischen Nationalisten hingezogen, denn dort findet sie Halt und Anerkennung. Als ihre Mutter stirbt, entdeckt sie jedoch, dass zwischen deren Brüsten ein armenisches Kreuz tätowiert ist. Sabihas Selbstverständnis wird komplett auf den Kopf gestellt. Das Schweigen der Mutter über ihre eigentliche Idendität und Geschichte stürzt Sabiha in eine Krise. Im Durchleben und Aussprechen dieser eigenen Konflikte findet Sabiha zu sich selbst und durchbricht so ihren Panzer der Sprachlosigkeit.

Ron Rosenberg – in Berlin lebender jüdischer Regisseur und Autor – inszeniert den vielschichtigen inneren Monolog über das Verdrängen und die Wiederkehr des Schreckens als einen Auf-Bruch. Das Aufbrechen der harten Kruste des Schweigens ist zugleich auch ein unaufhaltsames Fortgehen und Anderswerden. Ausgangspunkt dieser Identitätsfindung ist die im Stück ebenfalls erzählte und zutiefst verstörende Geschichte von einem Alt-Nazi, der nach dem Holocaust in Lateinamerika eine Jüdin heiratet und als Jude lebt. Erst im Testament gesteht er seine Folterpraktiken, obwohl er diese nachweislich nicht selbst begangen hat. Mit seiner beliebigen Verkehrung der Identitäten hinterlässt er eine Verunsicherung und Leere, die weit über sein Leben hinausreicht. Sabihas Wahrheitssuche hingegen findet nicht nur zur Sprache sondern darin auch zu Vergebung, Hoffnung, Witz und Liebe.

„In ‚Annes Schweigen’ wird Deutschland zum Ausgangspunkt einer Geschichte, die bis in die dritte und vierte Generation darauf wartet, miteinander erzählt zu werden. Wir brechen dort das Schweigen, wo es angefangen hat.“

Den Text zur monologischen Inszenierung liefert Dogan Akhanli, deutsch-türkischer Autor, der zahlreiche Bücher -auch zum Thema  Völkermord an den Armeniern – publiziert hat und über dessen Kampf für Menschenrechte und gegen Antisemitismus wir hier schon mehrmals berichtet haben 
(http://www.hagalil.com/archiv/2010/09/29/dogan/)
„In meinem Stück „ sagt Akhanli, „überwindet die Mutter bis zu ihrem Tod nicht die Sprachlosigkeit. Ohne Heimat und Familiengeschichte verirrt sich Sabiha deshalb zu den Nationalisten und kann sich, durch den Tod ihrer armenischen Mutter, nicht mehr mit ihr versöhnen. Aber sie geht über die, im Schweigen eingefrorene Trauer der Mutter, hinaus. Sabiha zerbricht nicht an den erstarrten Widersprüchen.

Indem sie anfängt wirklich von sich zu sprechen, überwindet sie den Kreislauf von Gewalt und Verdrängung, Identitätsverlust und Isolation. Sie legt den verschütteten Brunnen ihrer Geschichte frei und beginnt, das Brachland zwischen den Generationen und Kulturen zu bestellen. Im Erzählen fängt sie an, ihre Geschichte zu entdecken und vielleicht zu verändern.“ Bea Ehlers-Kerbekian, Tochter einer armenischen Mutter und eines deutschen Vaters, verkörpert Sabiha auf der Bühne, die von Michael Graessner in einen Raum verwandelt wird, in dem die Fäden der Erinnerung zu einem Geschichtsteppich verwebt werden.

Die Aufführungen werden durch ein vielfältiges Rahmenprogramm begleitet, für das Politiker, Künstler und Wissenschaftler vor oder nach den Vorstellungen zu Gesprächsrunden eingeladen sind. Dabei möchte das Ensemble mit den eingeladenen Gästen und dem Publikum auf Spurensuche gehen und die Geschichte(n) einer sprachlosen Generation auf der Suche nach Identität gemeinsam finden.
Annes Schweigen / Annenin Sessizligi
+ Ein deutsch – türkisch – armenisches Gemeinschaftsprojekt +

Aufführungen:
Berlin:
Theater unterm Dach, Prenzlauer Berg, Danziger Straße 101
Karten: 030 902 953 817
18. Oktober (Uraufführung), 19. und 20.10., 3. und 4.11. sowie 8. und 9.11.  und 29.11. und 30.11.2012 jeweils 20 Uhr

Köln:
Theater im Bauturm – Freies Schauspiel Köln, Aachener Straße 24–26
Karten: 0221 524242
17. Januar 2013 (NRW-Premiere), 18. und 19.01.2013
jeweils um 19:00 Uhr
Im Anschluss an die Aufführungen findet an allen drei Abenden um
21:00 Uhr ein Konzert von armenischen Sänger und Komponisten Massis Arakelian statt.
Sein musikalisches Programm "Krunk-Kranich" verbindet okzidentalische und orientalische
Musikstile und sucht in poetischen Bildern und Motiven nach der Heimat der Seele.


Eingeladen zum Internationalen Monodrama Festival THESPIS in Kiel am 11. November 2012.

2013 sind weitere Vorstellungen in Köln, in Münster (Kammertheater Der Kleine Bühnenboden) sowie in Istanbul und Jerewan geplant.

Blog zum Stück:
http://annesschweigen.blogspot.de